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Bruce Gilden
A Closer Look

© Bruce Gilden / Magnum Photos
© Bruce Gilden / Magnum Photos

Alles neu macht der Mai! 

Weiter geht´s ab 8. Mai 2025 am Thierschplatz 6 im Lehel mit der Ausstellung des berühmten New Yorker street photographers BRUCE GILDEN.

Die neuen Öffnungszeiten sind ab 8. Mai, wie folgt: Täglich 10:00 - 18:00 Uhr, Freitags 10:00 - 20:00 Uhr 

Wir freuen uns, Sie schon bald in unserem neu gestalteten Kunstfoyer am neuen Ort Thierschplatz 6 wiederzusehen!

 

Zu Bruce Gilden – Von Freddy Langer


Darf man das? Sich Passanten in den Weg stellen und ihnen die Kamera vor die Brust halten, als handele es sich um eine geladene Waffe, was sie ja genaugenommen auch ist? Vor ihnen auf die Knie gehen, um sie aus der Froschperspektive zu fotografieren? Oder hemmungslos draufhalten, während sie wehrlos am Boden liegen, in private Gespräche vertieft sind oder in ekstatische Verzückung geraten? Ja, das darf man. Das ist juristisch geklärt. Man darf es zumindest im Namen der Kunst. Und auch, um das Treiben im öffentlichen Raum zu dokumentieren. Wer nach draußen geht, muss deshalb damit rechnen, Motiv zu werden. Nun kann das aus dem Hinterhalt geschehen, unauffällig, aus der Distanz. Oder eben aus nächster Nähe. Das mag dann manchem vorkommen wie ein Überfall.     

Dezenz dürfte der letzte Begriff sein, der einem zum Werk Bruce Gildens in den Sinn kommt. Er hält sich nicht zurück bei seiner Arbeit. Sondern geht direkt los auf die Motive. Springt mitten hinein wie ein Raubtier auf seine Beute, gerade so, als sei die Fifth Avenue von New York ein Jagdrevier. Seine Bilder, sagt er, stehle er eben nicht heimlich. Vielmehr kommt er den Menschen so nah, dass sie einander berühren könnten. „Ist dein Bild nichts geworden“, wird Bruce Gilden nicht müde ein Apercu von Robert Capa zu zitieren, seinem ehemaligen Kollegen bei der Agentur Magnum, „warst du nicht dicht genug dran.“ Um Diebstahl könnte es sich mitunter dennoch handeln. Aber dass ihn die Menschen mitbekommen, dass sie ihn wahrnehmen, behauptet Bruce Gilden, gebe ihm die Lizenz fürs Bild. Und manchmal, so hört man, dreht er die Personen sogar mit einem schnellen Handgriff in eine für ihn taugliche Pose. Dennoch würde man sich nicht wundern, wenn es hin und wieder zu Scherereien käme. Zumal er den Menschen bisweilen direkt ins Gesicht blitzt, womit er durch den flammenden Effekt die Energie der Stadt und die Angestrengtheit der Passanten hervorhebt, ihr Gehetztsein. Und zu gern wüsste man, ob je oder wie oft eine Faust auf der Nase von Bruce Gilden gelandet ist.

Woher diese Furchtlosigkeit kommt, die sich bis zur Angriffslust steigern kann, dafür hat Bruce Gilden eine Erklärung. Sein Vater, ein Mann mit Gel im Haar, riesigen Ringen an den Fingern und dicksten Dollarbündeln in der Hosentasche, habe in Brooklyn einen Reifenhandel betrieben. So wenigstens war die offizielle Wortwahl. Aber als er als Kind zum ersten Mal den Laden betrat, habe es nicht einen einzigen Reifen gegeben. Das Geschäft war Kulisse, der Vater ein Gangster. Und der kleine Bruce Gilden wuchs auf wenn nicht gleich in der Unter-, so doch in einer Halbwelt von kleineren und größeren Kriminellen. Zurückhaltung und Scheu galten dort nicht als Tugenden. Dieser Umgang hat ihn geschult. Angst ist ihm fremd. „Ich habe gelernt, wie man sich da bewegt.“

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei Bruce Gilden bei der Arbeit um die Abgründe der Welt zu tun. Um das Bedrohliche, das Unangenehme, das Andersartige. Oft geht es um prekäre Verhältnisse, nicht selten um ein Leben in der Gefahrenzone. Absturz ist die eine Vokabel, die wie ein Wasserzeichen hinter vielen seiner Bilder aufschimmert. Verbrechen ist die andere. Dann tummelt er sich ebenso in Amerika wie in Russland, England und Japan wie selbstverständlich im Milieu von Gaunern. Mal die der Mafia, mal die der Yakuza. Lakonisch bleiben ist seine Devise. Und sich von ihrer Mischung aus Vornehmheit und Brutalität bloß nicht beeindrucken lassen. Er begegnet Gangstern auf Augenhöhe. Und versteht es, ihre Überheblichkeit für sich zu nutzen. Kaltschnäuzig ziehen sie Messer und Revolver aus den Taschen. Wie im Übermut quetschen sie Kollegen den Daumen ins Auge oder reißen ihnen die Münder auf, aus denen Goldplomben im Dutzend strahlen oder sich ein Loch neben dem anderen auftut. Einmal läuft Blut an einer Hand herunter. Und dann reißen sie noch die Hemden hoch und geben an mit ihren Tätowierungen. Oder klemmen sich lässig Streichhölzer, Zigaretten oder dicke Zigarren zwischen die Lippen, als ginge es darum, Klischees gnädig zu erfüllen. Was Bruce Gilden Gelegenheit gäbe, sie zu mystifizieren, zumindest zu romantisieren. Doch daran ist ihm nicht gelegen. Und wenngleich er jedes Mal ganz dicht herangeht, beobachtet er doch nie wie ein Ethnologe, teilnehmend an fremden Umgangsformen. Sondern wie ein Naturwissenschaftler, der durch ein Mikroskop Einzellern dabei zuschaut, wie sie sich bewegen. Wie sie zucken. Ohne jegliche Empathie.

Und dann gibt es die Abgehängten. Menschen, die meinen, das Schicksal sei ihnen etwas schuldig, weshalb sie mit Wetten beim Pferderennen auf das schnelle Geld hoffen, aber in Wirklichkeit alles verlieren. Menschen in Haiti zwischen Verzweiflung, Glück und Ekstase während einer Voodoo-Zeremonie. Sechzehn Mal hat Bruce Gilden das Land besucht, das immer wieder im Chaos versinkt und eines der ärmsten der Welt ist. Aber nicht die Armut hat ihn interessiert, sondern eine überraschende Form der Zufriedenheit. Was zu verwirrend-bezaubernd-erschreckenden Aufnahmen führte, die mit ihrer Radikalästhetik gestaffelter Bildebenen des extremen Weitwinkels und verwirrenden Unschärfen eher Träumen entrissen scheinen als der Wirklichkeit. Menschen schließlich, die beim Mardi Gras in New Orleans bis zur Unkenntlichkeit verkleidet sind, gespenstisch, unheimlich, oder so weit entkleidet, das nur kleinste Stofffetzen die totale Nacktheit verhindern – und manchmal nicht einmal das. Was noch unheimlicher ist. Und so konzentrierte sich Bruce Gilden weniger auf die Umzüge in der Bourbon Street als auf die Zuschauer. Was unter ihnen passiert, zunächst. Was mit ihnen passiert, später. Wie er in seiner Arbeit ja überhaupt von Jahr zu Jahr sich immer mehr vom Treiben auf der Straße, der Fotoreportage, wenn man so will, weg bewegt hat hin zu den Reaktionen und Emotionen auf Gesichtern. Zum Porträt. 


Straßenfotografie ist das, was wir gewöhnlich bei unseren Erledigungen in der Stadt übersehen. Es sind die Momente, in denen der Fotograf erkennt, dass sich die Welt für ihn den Bruchteil einer Sekunde lang zur vollendeten Komposition arrangiert hat, in der ihm das Leben ein Sinnbild hinwirft für eine Stimmung, für eine Befindlichkeit, eine Sicht auf Zusammenhänge, die im Alltag sonst auseinandergerissen sind. Dieser Augenblick währt nur kurz, nur für die Dauer eines Wimpernschlags, aber der Fotograf schält ihn heraus aus dem Wirrwarr der tausend Eindrücke um ihn herum. Viel näher als der Maler, der sein Bild Stück für Stück zusammensetzt, bis er beschließt, dass es fertig ist, ist dem Fotografen deshalb dem Bildhauer. Denn auch er lässt zu allererst weg. Die Welt ist ihm ein Marmorblock, und der Sucher wird ihm zum Meißel. Er erfindet nicht, er legt nur frei. Geradeso, wie Michelangelo über seinen David gesagt haben soll, er habe immer schon in dem Felsen gestanden. Es habe ihn im Steinbruch von Carrara nur einfach niemand vor ihm bemerkt. Alles was er tun musste, war wegzuschlagen, was nicht zur Figur gehörte.


Darf man das? Menschen auf die Pelle rücken. Buchstäblich. Sich deren Gesichtern nähern, bis sie das Format des Bildes sprengen und in unerträglicher Schärfe, einer Klarheit nahe am Schmerz, alle Makel zu sehen sind, die jene Menschen auszeichnen, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen. Also Pickel, Warzen und Narben. Schwellungen, Schlupflider und deformierte Nasen. Stark eingefallene Wangen, schiefe Zähne und Bartstoppeln in Gesichtern von Frauen. Was keineswegs bedeutet, dass sie sich aufgegeben haben. Vielmehr tragen manche der Frauen dickste Schichten Make Up im Gesicht, haben sich mit Lippenstift Kussmünder ins Gesicht gemalt und Lidschatten schwer und feist wie Blutegel über die Augen gelegt, was durch den erbarmungslosen grellen Schein des Blitzlichts auf abschreckende Weise besonders deutlich hervorgehoben wird. Bruce Gilden sagt, er gehe, je älter er werde, umso näher an die Menschen heran. So nah, dass man die Poren sehen kann. Und ja, er darf auch das. Denn er hat gefragt. Hat mit diesen Menschen gesprochen, Zeit mit ihnen verbracht, sich ihre Geschichte erzählen lassen. Bruce Gilden spricht deshalb von „gemeinschaftlichen Porträts“. Und durch die Größe der Abzüge und deren Präsentation reicht er uns weiter, was er sich zuvor hat geben lassen: Die Lizenz zum Anstarren. Und ist nicht das Gesicht, wie der Naturforscher und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg es formuliert hat, „die unterhaltendste Fläche auf der Erde“? Wobei er keineswegs an die Lesbarkeit der Gesichter glaubte; im Gegenteil. Das Wesen des Menschen sei an seinem Äußeren nicht zu erkennen, schrieb Lichtenberg.

Was auch für viele der Personen gilt, die Bruce Gilden für seine Serie „Face“ ausgewählt hat – auf Landwirtschaftsmessen etwa, aber häufiger in heruntergekommenen Ecken solcher Städte wie Las Vegas, Miami und Columbus, Ohio. Da fand er Bauernsöhne neben Arbeitslosen, Drogensüchtige neben Prostituierten. Banale Gesichter, sagt Bruce Gilden, hätten noch nie interessiert und meint damit wohl die eines ebenso saturierten wie nivellierten Mittelstands. Er sucht Menschen, die sich unterscheiden. Die anders sind als alle, die man sonst um sich herum hat. Aber was er zeigt, überschreitet dann doch oft die Grenze dessen, wozu man gerne beschönigend noch Charakter sagt. Dass sich die Folgen von Alkoholismus, Armut und häuslicher Gewalt in deren Physiognomie eingebrannt haben, ist schwerlich zu übersehen. Diese Menschen haben viel erlebt und wenig zu erwarten. Das zeigen sie völlig hemmungslos. „Wenn du die Straße nicht riechst, ist es keine Straßenfotografie“, soll Bruce Gilden einmal gesagt haben. Wenn Du den Schweiß nicht riechst, könnte man das paraphrasieren, ist es kein Porträt. Manche nennen seine Serie eine Freak Show. Bruce Gilden versteht die Aufnahmen als Porträtreihe von Individuen und liefert manche Geschichte gleich mit: die Vergewaltigung durch den Großvater. Die Kindheit im Heim. Die Abhängigkeit von Schmerztabletten als Folge falscher Medikation. „Only God can judge me“, steht tätowiert auf dem Körper einer der Frauen: Nur Gott kann mich richten. Da sollte der Blick ruhig länger auf diesen Gesichtern aus dem Hinterhof der Gesellschaft verweilen. Auch wenn es schwer ist. Denn man schaut in stechende Blicke, die unter die Haut gehen. Die scharf wie Messerklingen sind. Und denen man nicht lange standhalten kann. Würden wir den Körper Natur nennen, wäre das Gesicht unser gesellschaftlicher Teil, mit dem wir uns nach außen verhalten. Sozial eingeübt. Umso beeindruckender ist es, dass keiner dieser Menschen zur erwartbaren Maske erstarrt, sich inszeniert oder gar selbst zensiert, dem Impuls zur Selbstdarstellung nachgibt. Kalkulierende Gesichtsarbeit, also das Spiel mit Mienen, scheint ihnen fremd. Das ist es, was sie so radikal authentisch wirken lässt.

Folgten die schwarzweißen Straßenfotografien Bruce Gildens mit ihren Unschärfen und Verzerrungen, den angeblitzten Details und den unkonventionellem Perspektiven mitunter der Ästhetik des Expressionismus, erinnern diese jüngsten, in Farbe fotografierten Porträts an die Fratzen der Neuen Sachlichkeit, zu der vor allem deutsche Maler von Georg Grosz bis Otto Dix die Konterfeis ebenso von Großindustriellen wie Dirnen verzerrt haben. Aber womöglich sind sie näher noch an den Gesichtern, mit denen uns Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch und andere Künstler der Renaissance einen Begriff vermittelten von Kranken und Aussätzigen der damaligen Zeit und von den Folgen der Pest.

Doch es ist kein Exkurs in die Kunstgeschichte, der Bruce Gilden zu diesen Menschen führte. Es ist noch einmal die eigene Biographie. Die Erinnerung an seine Mutter, die unter seinem Vater litt, durch Schläge und Zigaretten, die er an ihrem Leib ausdrückte. Die nachmittags fremde Männer mit ins Schlafzimmer nahm. Und die irgendwann ihrer Drogenabhängigkeit wegen in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik eingewiesen wurde. Dort nahm sie sich das Leben. Das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Bruce Gilden war damals dreißig. Erst jetzt spricht er offen darüber. Sagt, dass er die Erfahrungen jener Menschen, die er für seine Serie ausgewählt hat, zu einem nicht geringen Teil ebenfalls gemacht habe und sich deshalb mit ihnen identifizieren könne. Seine Art zu Fotografieren nennt er unverblümt Katharsis. Von den Porträtierten spricht er als seiner Familie. Und die Porträts nennt er Abbildungen seines Lebens.